Neues Raumkonzept für den Hagerhof: der Raum als dritter Pädagoge oder „Niemand sitzt mehr acht Stunden starr an (s)einem Platz“
Das kennen wir fast alle: Frontalunterricht in der Schule. Früher war klar, wie der Unterricht auszusehen hatte: Die Lehrer:innen stehen vorne, während die Schüler:innen an ihren Tischen zuhören und fleißig mitschreiben. Bis heute sind die meisten Schulen – zumindest architektonisch gesehen – auf dem Stand des Frontalunterrichts stehengeblieben. Sicher, die klassische Unterrichtssituation, wie man sie noch aus alten Zeiten kennt, ist weiterhin eine relevante Säule der didaktischen Bandbreite. Allerdings setzt man schon seit vielen Jahren daneben auf andere Sozialformen und Arbeitsmethoden. Nur ist die schulische Architektur nicht hinterhergekommen. Hier heißt es immer noch: die Lehrenden vorne, die Lernenden gegenüber.
Das könnte sich bald ändern – am Hagerhof ist man den ersten Schritt gegangen: Die Klassenzimmer der Erprobungsstufe sind im vergangenen Jahr neu nach Rosan Bosch konzeptioniert worden. Angedacht und angestoßen von Schulleiter Dr. Sven Neufert, umgesetzt von Erprobungsstufenkoordinator Nils Christians.
„65 Prozent der Kinder, die heute in die Grundschule kommen, werden später Berufe haben, die es noch nicht gibt. Schulen müssen daher selbstständiges Lernen ermöglichen, um die Kinder fit für die Zukunft zu machen. Design kann diesen Prozess unterstützen, indem es uns dazu anregt, unser Verhalten zu ändern“, erklärt die Kopenhagener Architektin Rosan Bosch. Die Designerin gestaltet Lernwelten in Universitäten, Schulen, Kindergärten, Bibliotheken und Kulturzentren. Bildungsräume sollen neu gedacht werden. Das Lernen selbst steht im Mittelpunkt – nicht der Konsum von Wissen.
Die flexiblen Arbeitswelten finden ihre Begründung in einem häufigen Perspektivwechsel, der die Kinder und Jugendlichen zum Lernen anregt. Weg vom reinen Instruktionsraum – hin zu mehr Flexibilität. Der Pädagoge und Schulreformer Dr. Otto Seydel ergänzt: „Hier Zuhörer, dort Redner, hier Beobachteter, dort Beobachter, hier Lerner, dort Lehrer.“ Da sind starre Sitzpositionen und -zuordnungen eher kontraproduktiv. „Denn“, so Seydel, „wenn ich die Kinder einsperre in engen Bänken, dann kann sich daraus keine Selbstlernkompetenz entwickeln.“
Rosan Bosch trifft Maria Montessori
Mit der Entwicklung neuer Lernraumkonzepte und -methoden gelten die Skandinavier als besonders fortschrittlich. In Schweden beispielsweise wird der Schulalltag schon in der fünften und sechsten Klasse maßgeblich durch die Kinder bestimmt: Diese erarbeiten sich gemeinsam mit dem Lehrer oder der Lehrerin einen Wochenplan, in dem festgelegt wird, wann die Schüler:innen allein, in Gruppen oder gemeinsam mit dem Lehrenden arbeiten.
Nun war Maria Montessori keine Skandinavierin und ihr pädagogisches Konzept ist mehr als hundert Jahre alt – dennoch: Rosan Bosch und Maria Montessori hätten sich verstanden. Die kosmische Erziehung Maria Montessori ist alles andere als antiquiert und findet ideale Voraussetzungen in einer dynamischen Raumsituation nach Rosan Bosch. In ihrer Erfahrungsschule des sozialen Lebens sollte der Nachwuchs zu mehr Selbstständigkeit und damit zu mehr Selbstvertrauen erzogen werden. Weil Kinder von Natur aus einen Lerndrang haben, sollten die Lehrenden die Schüler:innen zuerst anleiten und sie dann ihre eigenen Erfahrungen machen lassen. „Hilf mir, es selbst zu tun.“
Bildungsräume neu denken – die sechs Gestaltungsprinzipien nach Rosan Bosch
- BERG/Mountain Top: Die Lernsituation Mountain Top schafft einen Raum für Einzelpersonen, um sich an eine Gruppe zu wenden und Wissen, Ansichten, Gedanken zu teilen. Der Redner/die Rednerin, egal ob Lehrer:in oder Schüler:in wird zum Erzieher/zur Erzieherin
- HÖHLE/Cave: Höhlenräume sind kleine Rückzugsmöglichkeiten für ein oder zwei Kinder abseits des Aktivitätsbereiches. Das Prinzip Cave schafft Ruhe und bietet für der oder die Lernende Konzentration, Fokussierung und Reflexion.
- LAGERFEUER/Campfire: In der Lagerfeuer-Lernsituation sollen Schüler:innen effektiv in kleinen Gruppen/Teams zusammenarbeiten
- WASSERSTELLE/Watering hole: Diese Lernsituation nutzt informelle Räume mit vielen Störern. In der dynamischen Umgebung mit vielen Unterbrechungen soll Kreativität, Neugier und Spannung erzeugen
- PRAXIS/Hands on: Nonverbales Lernen steht beim Hands-on-Prinzip im Mittelpunkt. Hier entsteht eine Verbindung zwischen Theorie und Praxis, indem ein Lernen mit „Kopf, Herz und Hand“ ermöglicht wird
- MOVEMENT/Bewegung: Bewegung verleiht dem Lernprozess Abwechslung und Energie, es unterstützt das Lernen auf neuronaler Ebene. Motorisch fitte Kinder, sind geistig fitte Kinder.
Soweit die Theorie – und wie sieht es in der Praxis aus?
Nils Christians hat als Erprobungsstufenkoordinator maßgeblich zur Umsetzung des Raumkonzeptes beigetragen:
Ein Interview mit dem Klassenlehrer der 5b:
Ein neues Raumkonzept – wie war der Anfang?
„Die Idee war, dass wir die Räume der Erprobungsstufe neu gestalten wollten und dann Herr Neufert mit dem Konzept von Rosan Bosch kam. Ich war immer sehr an offenen Lernlandschaften interessiert und da ist das Prinzip von Rosan Bosch sehr verheißungsvoll.“
Das Bosch-Konzept ist eigentlich auf die Umgestaltung ganzer Stockwerke ausgelegt. Kann das auch für einzelne Klassenräume umgesetzt werden? Was lässt sich verwirklichen?
„Genau. Wir mussten erst gucken, inwieweit, wir das Prinzip in unseren recht großen Klassenräumen mit 74 Quadratmetern umsetzen können. Verwirklichen lässt sich einmal das Mountain-Top-Prinzip mit Sitzkreis zum Versammeln und Zuhören. Dann die Cave-Situation, also die Höhle, in die man sich zum Lernen zurückziehen kann. Außerdem das so genannte Campfire, damit Schüler:innen in kleineren Gruppen zusammenarbeiten können.“
Keine vorgegebenen, starren Sitzpositionen, sondern offene, leicht veränderbare Lernräume, um individuelle Lernprozesse anzuregen und zu unterstützen. Klappt das?
„Wir haben es jetzt erstmal so, dass sich die Kinder zunächst auf ihren Platz setzen. Der Sitzplatz wird aber nicht zugebaut, so dass er flexibel bleibt. Das heißt: Nach der Instruktionsphase setzen sich die Schüler:innen entweder auf ihren eigenen Platz oder aber dorthin, wo sie für sich gut lernen können. Das ist entweder mit einem Freund im Campfire oder die ruhige Einzelarbeit in der Höhle/Cave.
„Dadurch, dass Ranzen, Rucksäcke und andere eigene Materialien in einem separaten Raum mit Fächern liegen, erreichen wir mehr Flexibilität in den Klassenräumen. Das gibt den Schüler:innen die Möglichkeit, selber den besten Weg zu finden, wie sie lernen möchten. Möchte ich Ruhe, mit einer/m Mitschüler:in oder in einer Kleingruppe lernen? Die Möglichkeiten sind vielfältiger geworden.“
Hat das neue Konzept auch Schwächen?
„Als Nachteil haben einige Lehrer:innen empfunden, dass sie die Schüler:innen nicht immer im Blick haben. Am Anfang waren die Möbel teils so gestellt, dass die Kinder aus dem Sichtfeld der Lehrer:innen komplett verschwunden waren. Das haben wir wieder geändert. Jetzt stehen die Regale so, dass die Lehrer:innen ihre Schüler:innen auch sehen können.“
Die neue Flexibilität der Lernprozesse gilt auch für das Kollegium. Was hat sich geändert?
„Ich habe bewusst kein Lehrerpult in die Klassenräume gestellt, sondern nur noch rollbare und höhenverstellbare kleine Tische, an denen sich man aber nicht für längere Zeit niederlassen soll. Mit kleinen Hockern sollen die Lehrer:innen der Erprobungsstufe flexibel unterwegs sein und sich zu den Kindern setzen.“
Wie passt das Design von Rosan Bosch zu Maria Montessoris (Lern-)Prinzip?
„Generell kann man sagen, dass die Bildungspolitik in den vergangenen Jahren schon gemerkt hat, dass das freie und selbstständige Lernen nach Montessori gut ist. Und diese Lernlandschaften spielen dem Lernprinzip in die Karten. Komischerweise haben viele Grundschulen Teile der neuen Lernlandschaften bereits umgesetzt – in den weiterführenden Schulen hinkt man da noch hinterher.
Man könnte meinen, das sei dem fortschreitenden Alter der Schüler:innen geschuldet. Das ist aber nicht so. Wenn man sich moderne Firmen wie Google anguckt, sieht man dort auch Lern- oder Arbeitslandschaften mit Chill-Area, Kaffeelounge und Gruppenarbeitsplätzen. Niemand sitzt mehr acht Stunden starr an seinem Platz.“
Text und Fotos: Claudia Hennerkes